Warum werden Autoren gefragt, ob dieses oder jenes in ihren Romanen wirklich passiert sei? Ist der biographische Bezug notwendig, um etwas wahr zu machen? Zweifellos ist er notwendig, um etwas real zu machen. Aber darin steckt nur eine rein mechanische Banalität, denn es ist ein Irrglaube, dass real und wahr dasselbe seien. Lügen können real sein. Auch Lebenslügen können es. Somit können komplette reale Biographien unwahr sein. Anders herum können erfundene Begebenheiten vollkommen wahr sein; in dem Sinne, dass sie aus einer tief liegenden Ader einer Wahrheit schürfen. Deshalb erschüttert und berührt uns ein Roman: weil wir spüren, dass die Handlungen stimmen, dass die Beziehungen richtig sind. Und deshalb ist der Roman und ist die Autofiktion auch, die unsere verfälschten Erinnerungen an unsere eigene Vergangenheit darstellen, wichtig. Denn Realität erfahren wir alle in vergleichbarer Dosis. An der Suche nach der Wahrheit aber beteiligen wir uns in gänzlich unterschiedlichem Ausmaß.
Aber diese Gedanken kamen mir erst viel später, in meiner Wohnung am Arndtplatz mit Blick auf den Schreventeich zwischen dem Laub der Parkbäume. Es war einer dieser schwülen Krisensommer, in denen Regierungen versagten und der Krieg die Weltordnung zerfraß, wie Säure ein Stück Blech, während ich meine Zeit im zweiten Stock eines modernen Forschungsgebäudes mit repräsentativer Glasfront damit verbrachte, gesunde Immunzellen in Leukämie zu verwandeln, um mein damit erwirtschaftetes Einkommen in Bücher und teure Designermöbel zu investieren, die mein neues bürgerlich-bohemisches Klassenbewusstsein widerspiegeln sollten. Und diese würdige Lächerlichkeit meines Alltags war mir schmerzlich bewusst, obwohl ich gleichzeitig nicht bestreiten konnte, dass ich glücklich war. Real war dieser Sommer also, und real war, wie ich ihn erlebte. Real war auch meine Forschung und real war die Ostsee unterhalb des Universitätsklinikums. Verlogen aber war mein Alltag und wahr war nur, dass die ruhige Brandung der Ostsee zu verbergen suchte, dass sie auch in Russland war. Die Wahrheit fand ich in diesem Sommer also schwerlich in mir greifbarer Biographie. Doch kleine Krumen Wahrheit leuchteten aus den Stollen von Kundera, von Seiler und Tellkamp. Bücher, die real waren.