verlorene Zeit

Die gelben Lichter der Stadt am anderen Ufer funkelten im Blau der anbrechenden Nacht. Die stete Brandung der Ostsee. „Verdammte Scheiße“, hatte er gerufen, als er immer wieder über die Steine stolperte, die im Wasser schwer auszumachen waren.

Seine Füße rutschen auf den nassen Steinen aus, sodass er jedes Mal mit seinen Armen in das eiskalte Wasser eintauchen musste, um den Sturz abzufangen. Dann wurde der Boden weicher, während die Brandung das Wasser immer höher trug. Fluchend und mit den Armen rudernd kämpfte er sich weiter in das erbarmungslose graue Meer, bis die Gischt an seinen Hals schlug. Er warf einen Blick zurück und erahnte die drahtigen Umrisse des Freundes, der sich ähnlich angestrengt in die Fluten kämpfte. Dann spannte er seinen Körper an und bog den Kopf nach vorn unter eine heranrollende Welle. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen, die Augen geschlossen. Jähe Stille, während die kalte See seinen Brustkorb zusammenpresste und in seine Gelenke stach. „Aber ich merke, dass ich es gar nicht will“, hatte sie mit fester Stimme gesagt.

Er spürte ihren Körper bestimmt an den seinen gelehnt, während sie auf einer der weißen Bänke unter den Kolonaden saßen. Der Herbst war der wärmste der letzten Jahre gewesen und die flachen Sonnenstrahlen des Oktobers tauchten das alte eiserne Gerüst jetzt in ein goldenes Licht. Die Schönheit des tschechischen Kurortes war zeitlos. Minutenlang zeichnete er mit den Augen die Schatten der Zierpalmen und Säulen auf dem steinernen Boden nach. „Unsere Gespräche bleiben oberflächlich. Natürlich ist es schön, mit Dir hier zu sein, aber wir öffnen uns nicht richtig. Und ich merke, dass ich es auch nicht mehr will. Ich bin selber überrascht.“ Er nickte für sich und hielt die Augen fixiert auf das holzvertäfelte Dach über ihm, während er sich langsam zurücklehnte und in sich hineinfühlte. Er wusste, dass sie Recht hatte; die Fristen waren verstrichen, es war sinnlos. Seine Schritte hallten in den leeren Kolonnaden wider.

Durch das große verschmierte Südfenster am Ende des geschwungenen Ganges drang das kalte Licht der Laternen auf dem Platz dahinter. Sein Schatten verfolgte ihn geduldig, als er den verlassenen Gang entlang schritt. Hin- und wieder blitzte ihn sein Spiegelbild aus einem der Schaufenster an, während die Nacht draußen das Dorf und den Wald verhüllte. Eltern hielten beschützend die Schultern ihrer Kinder fest.

Kinder in Winteranzügen, mit Handschuhen, die an dicken Kordeln an den Ärmeln befestigt waren, damit sie sie nicht verloren gehen würden. Die Augen weit aufgerissen, der schnelle Atem dampfend in der Luft, während die Sterne im schwarzen Himmel in einen immer dichteren Rauch gehüllt wurden. Aus unsichtbarer Höhe drang das Knistern des Schwarzpulvers der Feuerwerkskörper. Für Bruchteile von Sekunden leuchteten die schönen böhmischen Jugendstil-Fassaden in dem roten Licht der Raketen auf, rennende Schlagschatten zwischen den Autos. Die Einkaufstüten schnitten in seine Finger. Er lief den breiten Boulevard entlang und spürte die nostalgische Wärme im Tschechisch der Eltern, die ihre Kinder auf ihre Schultern hoben und andächtig am Rande der Straße stehen blieben, um das Feuerwerk zu sehen. Und immer wieder das rote Licht, das durch die Rauchschwaden auf die Straßenschlucht hinabgeworfen wurde. Er wusste, dass sie jetzt auf dem Balkon der Altbauwohnung stehen würde, das Gesicht erhellt vom selben Feuerwerk. Er sog die kalte November-Luft gierig ein und erahnte das Rufen seines Freundes hinter ihm. Heftig warf er seinen Kopf in die nächste Welle.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Archiv