„Ich muss mal wieder rein“, hatte sie gesagt und ihm den Arm freundschaftlich gedrückt. Sie lies ihren schmalen Körper gegen die schwere Tür fallen, und trat mit einem entschuldigenden Lächeln zurück in das Restaurant. Als sie sich im Umdrehen die Haare hinter das Ohr strich, sah er noch einmal das kleine schwarz-tätowierte Kreuz auf ihrem Hals. Durch die große Fensterfront verfolgte er, wie sie ihren Mantel über einen Stuhl hängte und sich lachend zu dem Mann herunterbeugte, der auf einer der rot bepolsterten Bänke saß. Die geschmackvolle grüne, blumenverzierte Tapete, die an einigen Stellen nachlässig ausgebessert worden war, lachte bohemisch von den Wänden. Als sie sich gesetzt und unter dem warmen Blick des Mannes ihr Weinglas an die Lippen geführt hatte, wandte er sich verstört von dem Fenster ab. Er stellt den Kragen seines Mantels gegen den kalten Wind auf, der die Knaackstraße hinauf gezogen kam. Gegenüber ragte der dunkle Wasserturm stumm in den Himmel.
Auf dem Klemmbrett in seiner Hand stand der Name nicht. Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend hastete er das dunkle Treppenhaus empor und bog links auf die onkologische Station ab. Vor dem Tresen sah er eine Frau warten, den Blick hilflos die Wände entlang tastend. „Frau Stiller?“, fragte er in ruhigem Ton, als er sich ihr näherte, und verlangsamte seine Schritte. Die Frau wandte sich ihm zu und heftete Ihren suchenden Blick in sein müdes Gesicht. „Ulrich ist mein Name, ich bin der diensthabende Arzt“. Ein Satz, an den er sich in den letzten Wochen nur langsam gewöhnt hatte. Er tippte auf das Namenschild, das an seiner Kitteltasche baumelte. „Wollen wir gemeinsam zu ihrem Vater gehen?“ Die Frau antwortete nicht, aber folgte ihm zögerlich an die Tür des Zimmers mit der Nummer sieben. Er klopfte und öffnete dann mit einem bekräftigenden Blick über die Schulter die Tür.
Der Regen wurde stärker, während er ziellos über den Kollwitzplatz irrte. Der nasse Stoff des braunen Mantels drückte schwer auf seine Schultern. Unter einem der dunklen Bäume zündete er sich eine Zigarette an und sog den klammen Rauch durch die Lippen. Seltsam war es an diesem leeren Ort, der doch nicht still sein konnte durch die Erinnerungen, die geistergleich die nassen Straßenzüge bevölkerten. Er wischte sich den Regen von der Stirn. Dann streckte er die Hand aus und legte sie behutsam auf die Schulter des ausgezehrten Männlein, das dort im Bett lag. Ein Blick auf die Venen am sehnigen Hals offenbarte das Herzversagen. Die Arme des Mannes waren kalt und ohne Fleisch und die tiefe Atmung erzitterte den erschöpften Körper unter dem Patientenhemd. Er spürte das Grauen in den Blicken der Frau, die drei Schritte hinter ihm im Halbdunkel des Patientenzimmers stehen geblieben war. Die gelben Augen des sterbenden Mannes suchten die seinen. Der Blick aus weiter Ferne. Er setzte sich auf die Mauer und lies die Augen zufallen. Er hörte die verzweifelten Schläge des Herzens durch sein Stethoskop, während seine Finger den Puls am Handgelenk tasteten und sich die gelben Augen in die seinen brannten. Und er den rasselnden Atem auf seiner Wange spürte. Und die Frau hinter ihm schluchzte. Und der Mann auf der roten Bank liebevoll ihre Hand von der weißen Tischdecke in die seine nahm.
Unter seinen Augenlidern war das warme Rot der Sommertage. Er blinzelte in das Licht der Nachmittagssonne. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Helligkeit. Es mussten mindestens zwei Stunden gewesen sein. Der Schlaf fuhr aus seinen Gliedern und hinterließ ein Gefühl der Ruhe. Über ihm war nur das Rascheln der Pappeln und Birken zu hören. Er stützte sich auf und sah die Seiten des aufgeschlagenen Buches im Wind flattern. Nachdem er das Buch zugeklappt hatte, strich er gedankenverloren über den Einband und dachte an Combray. Er setzte sich auf und lies den Blick über die römische Therme, die kleinen Wege und das hohe Gras des Parks Sanssouci streifen. Dann legte er seine Hand behutsam auf die Schulter seiner schlafenden Freundin. Die Blätter des Baumes, unter dem sie sich hingelegt hatten, spielten als Schatten auf ihrem feinen Körper. Als er ihre Haare zurückstreicht. Ein Sonnenstrahl trifft die schwarze Tinte an ihrem Hals. Irgendetwas daran würde ihm gefallen, wenn er sie im ICE zwischen Köln und Frankfurt schräg vor ihm sitzen sehen würde. Und er sich nicht auf das Schreiben seiner Dissertation konzentrieren könnte. Sein Blick würde zu dem schwarzen Kreuz an ihrem Hals wandern und zu dem zerknitterten Biller auf ihrem Tisch. Und auf dem Bahnsteig in Frankfurt würde sie ihn nach dem Weg fragen und es wäre gut, bis er ein paar Jahre später gehen würde, und sie würden sich zufällig am Wasserturm in Berlin wiedersehen. Und es wäre spät. Er wäre müde.
Das Telefon riss ihn aus seinem Schlaf. Instinktiv nahm er den Anruf an. „Alles klar, ich komme hoch.“ Während seine Gedanken sich sortierten, fand er langsam zu sich und in das Zimmer. Er setzte sich an die Kante des Bettes und sah den fahlen Schimmer des grauen Novembermorgens durch die Vorhänge auf den Schreibtisch fallen. Er trank einen Schluck aus der Wasserflasche am Bett. 5:32 Uhr. Dann nahm er seinen Kittel und einen Totenschein und ging auf die onkologische Station.