Alter Löwe

„Bist Du noch bei uns?“, hatte Martin lachend gefragt und sein Gin-Tonic Glas gelegen Felix‘ Bierflasche gestoßen, sodass ein wenig der klaren Flüssigkeit auf den mit Stickern und Flecken übersäten Holztisch schwappte. Von der tiefen Couch aus warf Katha einen belustigen Blick in Felix‘ Richtung und zog bedächtig an der Zigarette, die sie zwischen den Fingerspitzen eines ihrer schneeweißen, vor der Brust verschränkten Arme hielt. Felix hielt ihrem Blick stand und überlegte kurz, bevor er sich erneut Martin zuwandte. Der niedrige und gusseisern eingefasste Lampenschirm über dem Tisch erhellte Martins Gesicht auf eine Art, die seinem betrunkenen Grinsen ein satyrhaftes Aussehen verlieh, auf das ein Peter Paul Rubens neidisch gewesen wäre. Felix musterte Martins bärtiges, breites Kinn über dem muskulösen Hals und Schultern. Er war ein Kind in dem Körper eines griechischen Helden. Der es sich erlauben konnte, naiv und laut zu sein, weil sein Doryphoros Rücken immer bereit war klarzustellen, dass er dennoch ernst zu nehmen sei, dachte er. Und die Frage blieb, ob ihm das zu gönnen war. In Felix‘ Blick blitzte unwillkürlich etwas Abschätziges auf während ihn das Gefühl einnahm, im Besitz einer Gedankentiefe zu sein, zu der sein Freund, der dröhnende und triumphierende Martin, qua physis keinen Zugang haben konnte.

„Ich kann dem einfach nichts abgewinnen. Ehrlich, ich habe es versucht. Aber es ist einfach nicht real. Nichts davon.“

Martins Gesicht verfinsterte sich und Felix sah einen gequälten Ausdruck über seine Augen huschen, doch der Freund erwiderte nichts. Stattdessen senkte Martin seine Schultern und ließ seinen statuenhaften Körper langsam aus dem warmen Schein der Lampe zurück in seinen Stuhl sinken. Das Gin-Tonic Glas in seiner Hand, das er nun langsam vom Tisch in seinen Schoß hob, sah in seinen Pranken-artigen Händen wie ein Kinderspielzeug aus. Und während Martins Augenbrauen sich über den in die Dunkelheit der Kneipe abfallenden müden Gesichtszügen zusammenzogen, hörte Felix Katha fragen: „Hast Du es denn wenigstens gelesen?“. Sie hielt ihren unverwandten Blick weiter auf Felix fixiert, während sie die Asche ihrer Zigarette mit einem abgemessenen Schnippen ihres Zeigefingers in den vollen Aschenbecher auf dem Tisch fallen ließ. Ihre hellgrünen Augen bohrten sich nicht unfreundlich, aber hart in Felix‘ Gesicht, der wie immer, wenn sie ihn so ansah, das Gefühl hatte, sie lese seine Gedanken. Ihre feinen Züge verhießen ein wissendes Mitgefühl, eine vergeschwisterte Komplizenschaft. Und Felix spürte auch wie immer dieses leichte Stechen in der Brust. Es blieb sein frustrierendstes Rätsel, warum die bis zum Wahnsinn kluge Katha seit Schulzeiten Martins Freundin war.

„Angefangen habe ich es. Aber wie könnte ich den verlogenen Stoff zu Ende lesen? Was interessiert mich das? Weißt Du, ich dachte, er würde über seine Kindheit schreiben. Verdammt, Martin, Du wolltest doch über unsere Kindheit schreiben. Warum schreibst Du nicht, was passiert ist?“ Den letzten Satz warf Felix giftig in die Richtung, in der er Martin im Schatten vermutete. Man sah nur die Umrisse des zusammengesackten Kolosses. Die Silhouette seines groben Strick-Pullovers grenzte sich unscharf gegen das spärliche Licht der vereinzelten Kerzen und Lampen der Nachbartische ab. Mit sanfter Stimme hörte Felix Katha sagen: „Du hast es nicht verstanden.“ 

„Was habe ich nicht verstanden?“

„Er hat über Euch geschrieben. Ich dachte, das sei klar.“ 

„Wo hat er denn über uns geschrieben?“ Felix war nun ehrlich verblüfft. Aber bereits im nächsten Moment verwandelte sich das Gefühl. Eine Mischung aus Wut und Hass, die ihn überraschte, stieg plötzlich wie Galle in seinem Hals auf. 

„In dem Manuskript geht es um zwei Studenten im Prager Frühling. Was davon hat bitte mit Güstrow nach dem Mauerfall zu tun? Er schreibt über Dubček, den er nicht kennt, von dem er nichts weiß – nichts wirklich weiß? Und warum zur Hölle tust Du so, als wüsstest Du, wie es ist, zwischen den Splittern zerborstener Schaufenstern Flaggen vor russischen Panzern zu schwingen? Als wärst Du ein sozialistischer Intellektueller, statt ein Psychologiestudiums-Abbrecher vom mecklenburgischen Land. Du denkst Dir Dinge in fremden Biographien aus, statt den gebrochenen Nasen eine Denkschrift zu geben, die uns die verdammten Nazi-Schlagringe in den 90ern gebracht haben. Über die Angst auf dem Schulweg wolltest Du schreiben. Das hast Du doch gesagt? Was ist los mit Dir?“

Von dem versteinerten Schatten meinte Felix ein wie körperloses Brummen zu vernehmen und er sah wie sich Martins Kopf weiter senkte, bis er ganz auf seiner Brust zu liegen schien. Die zwei jungen, elegant gekleideten Hipster-Studentinnen am Nachbartisch warfen argwöhnische Blicke an ihren Tisch, die Felix mit unwirschen und unbestimmten Handbewegungen in ihre Richtung quittierte. Katha hatte sich inzwischen auf der Couch zurückgelehnt und ihre Arme neben sich wie leblos fallen lassen. Das Gesicht hatte sie von Felix abgewandt und er sah ihre Augen nun nachdenklich und mitfühlend auf Martin ruhen. Nichts an ihrer Haltung deutete darauf hin, dass sie seinen Ausbruch gehört hatte. Die weiße, fast durchsichtige und im Kerzenlicht schimmernde Haut und die spitze Nase im Profil verursachten einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge, der sich mit dem metallischen seines Ausbruchs zu einem elenden Pelz vereinte. 

„Das ist mir zu doof. Ich gehe nach Hause.“

Felix‘ Stuhl kratzte laut über die Dielen beim Aufstehen. Erst vor der Tür der unscheinbaren Eckkneipe, in der kalten Novemberluft warf er sich seine Jacke über. Während er wütend nach der Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche suchte, warf er einen Blick zurück auf die Szenerie hinter den verschmierten Scheiben des „alten Löwen“. Vor seinen Augen erschienen die vereinzelten Lichtkugeln der Lampenschirme und Kerzen über den Tischen wie Sterne in einem fremden Nachthimmel. Jeder Stern beleuchtete die Planeten-Gesichter seins Systems und so auch Katha, die sich nach vorne gebeugt hatte und mit ernster Miene auf Martin in seiner fernen Umlaufbahn einredete. Felix zitterte vor Kälte, in seinem Kopf drehte es sich und er musste sich konzentrieren, um im Gehen Feuer zu machen für die Zigarette, die er zwischen seinen klappernden Zähnen hielt. Seine Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster der verlassenen Straße, die auf den Richardplatz führte. Unvermittelt blieb Felix am alten Kiosk, dem Pilz, stehen und lies den Blick über die alten, fast ländlichen Fassaden der Rixdorfer Häuser schweifen, die die drei Freunde immer auch an die Güstrower Altstadt erinnert hatten. Erst jetzt bemerkte er, dass er betrunken war und die Erkenntnis beruhigte ihn aus unerfindlichen Gründen. Er wusste, dass er kindisch und übertrieben reagiert hatte. Was hatte ihn so gereizt? Langsam nahm er seine Schritte wieder auf und das nasse Pflaster unter seinen Füßen verschwamm mit den spärlich beleuchteten Häusern zu einer wohligen Kulisse seiner Einsamkeit. Das Nikotin und die stechende Kälte sorgten für Klarheit in seinem Kopf, die sich beim Laufen auszuweiten schien. Was also hatte ihn so gereizt? Woher kam diese unbändige Wut auf Martin?

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